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  Als ich am 26. Oktober 1930 um 12 ¼ Uhr das Licht der Welt erblickte, - so wird poetisch dieser Vorgang beschrieben -, war das Wunder geschehen; ich war ein Sonntagskind! Aber, natürlich nicht ahnend, was mich auf dieser Welt erwartet, in die ich unschuldigerweise hineingeboren wurde. Am allerwenigsten konnte ich vermuten – auch zu dem Zeitpunkt nicht, als mein bewußtes Denken einsetzte -, daß ich im Oktober 2000 den siebzigsten Geburtstag im Kreis der Familien meiner vier Kinder mit sieben Enkel- und einem Urenkel und natürlich meiner lieben Gisela und weiterer engster Verwandten begehen würde. Leider ohne unserem Reinhard, der drei Tage vor seinem 44. Geburtstag tödlich verunglückte.

  Was liegt also näher, als die sieben Jahrzehnte Revue passieren zu lassen.

  Jedenfalls war es so, daß alles sehr enge zuging. Ich meine da nicht nur den Geburtsvorgang. Diese Aussage bezieht sich auf alle Umstände meiner Kindheitsjahre. Mein Jahrgang war der Jahrgang der Weltwirtschaftskrise, der politischen Suche aller damals herrschenden Regimes, aus der tiefen Rezession herauszukommen. In Deutschland führte sie zum Ende der nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen "Weimarer Republik" und zum Machtantritt des Nationalsozialismus, der das Volk bewußt irreführend seinem Regime den Begriff "Sozialismus" beigab und in Wirklichkeit brutaler, menschenverachtender Faschismus war. Dieser Weg des deutschen Monopolkapitals, der durch die Uneinigkeit der linken Kräfte begünstigt wurde, verschonte keine deutsche Familie vor den schrecklichen Folgen, auch unsere nicht.

  Vor mir waren schon zwei Jungs da, Horst, Jahrgang 1920 und Werner seit 1926. Und nach mir kleckerte sich noch einer in die Familie, Helmut 1938. Helmuts Geburt als vierter Junge machte Mutter würdig, das vom Führer gestiftete "Mutterkreuz in Bronze" verliehen zu bekommen. Es reihte sich ein in die Unzahl von Kreuzen, die dieser Staat des Hakenkreuzes für "Verdienste um Führer, Volk und Vaterland" zu verleihen hatte. Am Ende stand für Millionen das Grabkreuz. Daß meine Eltern für mich die Geburt für 1930 und nicht eher geplant – oder auch nicht geplant – hatten, war für mich ein Glücksumstand, denn das konnte mir das Leben gerettet haben. Der Jahrgang 1930/31 entging gerade noch der Rekrutierung. Wie bereits beschrieben, waren wir vier alle Geburten in der >Elendschen Kirche<, Kinder von Adele und Osmar Holfert, großgezogen in einer etwa 40 qm großen Zweiraumwohnung. Ich erinnere mich, daß ich jahrelang in der Besucherritze der Ehebetten meinen Schlafplatz hatte. Wie meine Brüder bis 1938 gebettet waren, ist meiner Erinnerung entfallen. Vater verdiente als Dachdeckergehilfe beim Dachdeckermeister Ruprecht , den Mutter meist den "Rupersch-Lump" nannte, den kärglichen Unterhalt für die Familie. Die abartige Titulierung bezog sich darauf, daß der eine "Fichtel-Sachs" fahrende Handwerksmeister den gutmütigen, nicht >nein< sagen könnenden "Os", der in Kehle eindecken ein Ass war, ausnutzte, wo er konnte. Bei seinen nicht seltenen Sonderwünschen nach Extraarbeit, die bei der "Annel" meist auf Widerspruch stießen, hatte er die Angewohnheit, mit seiner "Zatsch" vors Küchenfenster zu fahren und ohne abzusteigen, ihr die Notwendigkeit aufzuschwatzen. Und schwupp, war er weg. Mit seiner stolzen, aufgeputzten Frau "Meisterin" zeigte er gerne, daß sie zu den >besseren Leuten< gehörte. Und damit war der Titel gar nicht so abartig.

  Nachgewiesen ist, daß Vater in der Wirtschaftskrise bis September 1934 und dann regelmäßig bis 1938 in den Wintermonaten arbeitslos war. Die Arbeitslosenhilfe bewegte sich zwischen 15 und 20 RM wöchentlich. (Siehe Faksimile "Meldekarten Arbeitsamt Dipps".)

Textfeld: Die Wohnungsmiete betrug im Monat etwa 19 RM.  Der durchschnittliche Monatslohn für Arbeiter bewegte sich 1930 bei 185 RM. 1 Kilo Fleisch kostete 2,34 RM, 50 Kilo Kartoffeln 5,10 RM, 1 Flasche Bier 0,76 RM.  Für ein Kilo Kaffee mußte man 8 Stunden arbeiten gehen.

  Mutter ging deshalb zu den Leuten Wäsche waschen. Das Leben in der Wohnung war dem angepaßt, karg und in der Ausstattung bescheiden. Die Körperpflege geschah in der Hockerwaschschüssel und freitags in der Zinkbadewanne in der Küche. Das Wasser wurde auf dem Herd heiß gemacht und nach dem Baden zum Wischen des Fußbodens in der Wohnung verwendet. Noch heute, im Zeitalter ausreichenden und mit bescheidenen bis luxuriösem Komfort versehenen Wohnraums, erscheint es als Unmöglichkeit, so gelebt zu haben. Unsere Eltern hielten sich trotz oder gerade wegen dieser widrigen Umstände an die allgemein üblichen Gesellschaftsregeln. Wir wurden getauft und konfirmiert. Dies, obwohl es in der Familie kaum Kirchgänge gab, höchstens zu Weihnachten. Aber ich mußte mich mit dem lieben Gott insofern auf guten Fuß stellen, indem ich vorm Einschlafen das Kindesvaterunser beten mußte: "Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen, als Jesus allein". Oder auch: "Lieber Gott mach mich fromm, daß ich in den Himmel komm". Welche Wirkung das im Bunde mit meiner Sonntagsgeburt auf mein weiteres Leben hatte, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls bewahrte mich das nicht davor, ein Leben lang ohne Glaubensbekenntnis zu sein. Allenfalls galt für mich wie für meine Brüder der philosophisch-psychologische Grundsatz, daß die Umgebung den Menschen formt oder die Marx'sche These: >Das Sein bestimmt das Bewußtsein<. So wurde uns äußerste Sparsamkeit in jeder Beziehung anerzogen, anspruchsloses Essen wurde uns eigen. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, daß die Oberbekleidung der Größeren von den jeweils Jüngeren ge- bzw. abgetragen wurde. Neuanschaffungen geschahen auf Zuwachs, damit sie lange getragen werden konnten. Schäden, z.B. Löcher in den langen Strümpfen, Dreiangels in Hosen und Jacken, wurden von der "Holfert-Oma " in der Altenberger Straße Nr. 49 – das Haus, jetzt abgerissen, stand in der sogenannten Friedhofskurve – mittels Stopfgarn und Flicken behoben. Wenn es Schäden waren, die Mutter gar nicht erst sehen durfte, gingen wir gleich zu ihr. Die größte Freude war immer, wenn da eine Erwartung in Erfüllung ging, indem Großmutter in die Küche humpelte und mit einer Fettbemme zurückkam. Ich kannte die Oma nur als eine von Rheuma und Gicht geplagte, gebeugte Frau, die beim Laufen eine Hand aufs Knie stützte. Das waren Attribute jahrelanger schwerer Feldarbeit, die die Frauen der kleinen Bauern verrichten mußten. Großmutter war eigentlich für alle Enkel in dieser Beziehung eine Oase. Auch deren Wohnumgebung war für uns interessant. Unmittelbar am Mühlgraben gelegen war das ein idealer Spielplatz bis hin zum Weißeritz-Wehr, das jetzt von der Hochumgehung der B-170 überbaut ist. Dorthin wurde auch die "große Wäsche" von der Bergstraße mit dem Handwagen zum Bleichen gefahren. Grabenabwärts über der Straße war die Lohgerberei des Zuschauens mit zugehaltener Nase wert und das Gelände des Baumeisters Arno Nitzsche , nach dem auch sein Kino, die Arni-Lichtspiele benannt waren, war kein schlechter Spielplatz. Hauptsächlich jedoch spielte sich meine Kindheit im Bereich der Berg- und Hospitalstraße, des Planes und des Obertorplatzes ab. Winterfreuden wurden auf Böhms Wiese an der Technikum-Allee auf dem Schlitten und am Rölligteich auf den Schlittschuhen wahrgenommen. Die Boxen, Flemmings Weiden hinter der "Äppelbank", war unser ideales Schigelände. Werner wäre der Rölligteich bald zum lebensbeendenten Verhängnis geworden. Er stürzte beim Spiel hinein. Sein Lebensretter war der Werner Böhme von der Technikum-Allee, der hinzu kam und ihn heraus zog. Beide wurden auf einem Foto verewigt. (Als wir 1994 zu Werners Leben recherchierten, suchte ich auch den Werner Böhme in seiner Wohnung auf und wir plauderten lange über dieses Ereignis. Anliegen meines Besuchs war auch, daß er mir an Hand von Horsts und Werners Schulfotos deren Kameraden, die ich nicht kannte, identifizierte.)

  Die Hospitalstraße, die bis 1936/37 relativ unbelebt war, weil sie nur vom sogenannten alten Krankenhaus, der Nr. 6, dem des Postbeamten Hoch und dem Thiele-Haus bestand, belebte sich mit dem Bau der drei Vierfamilienhäuser – gegenüber der Nr. 6, was bis dahin städtischer Bauhof-Lagerplatz war – auch mit Kindern. Da wurde der Mehlfässelberg als Spielplatz interessant und auch die großen Linden am Plan.

  Meine Spielgefährten waren die etwas älteren Tusch, Rudi , Tuschnudel genannt, Spiller, Roland , Spiller-Morie genannt und Kaiser, Helmut . Von den Mädels waren es die Richter, Helga , die Scheffler, Edith , Toni, nach ihrer Mutter genannt und nicht unerwähnt will ich den Herbert Geschu lassen. Mit dem Kaiser, Helmut durchstreifte ich die Dippser Heide, besonders um die Einsiedlersteine, er kletterte gerne. Das hatte aber den Grund, weil seine Großmutter in der Karsdorfer Käserei wohnte und arbeitete, und er von dort regelmäßig den guten Harzer Käse holen mußte.

  Zur Zeit unserer Kindheit waren die Straßen von Autos noch unbelebt. Deshalb konnten wir uns z.B. erlauben, im Winter per Bob, das waren lediglich zusammengebundene Schlitten, von der Bergstraße ab Wasserbehälter (ugs.: Wasserhäuschen) bis auf die Dresdener Straße, die F, jetzt B 170 und, wenn wir richtigen Zahn drauf hatten, bis zum Obertorplatz zu fahren. Eine ähnliche Tour gab es auch vom Heinzelberg, Große Wassergasse bis auf den Markt und auch vom Pfortenberg auf die Bahnhofstraße, fast bis zur Weißeritzbrücke. Hinter dem Plan gab es noch zwei ideale Rodelbahnen. Die kürzere aber steilere war der "Planberg" ab den Hamann'schen Garagen. Die längere startete an der Scheune vor der "Äppelbank" und führte den Hohlweg hinab, beim Haus vom Waldwärter Beer vorbei. Beide mündeten beim Auto-Beier auf die F-170 und wenn es gut ging auf ihr weiter über die Weißeritzbrücke bis zum Gasthaus "Zur Sonne" und dort noch den "Sonnberg" hinunter in den Hof. Die beiden Stadtgendarmen Genauck und Bayer waren da nicht zu sehen.

 
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